Anne La Berge

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© Keke Keukelaar

Lauter spielen, als es die Flöte erlaubt (Andreas Fellinger / freiStil, Magazin für Musik und Umgebung)

Flöte, Text und Elektronik. Performance, Improvisation und Komposition. Die friedliche Ausweitung der Kampfzone. Das sind wesentliche Bestandteile der Musik von Anne La Berge. Darüberhinaus legt die in Amsterdam lebende interdisziplinäre Künstlerin Wert auf die sozialen Rahmenbedinungen ihrer ästhetischen Absichten. Bob Gilmore bringt es im Booklet ihrer fabelhaften CD Speak so auf den Punkt: „Ihre Performances bringen jene Elemente zusammen, auf denen ihre internationale Reputation basiert: ihre extreme und weitreichende Virtuosität, ihre Vorliebe für delikat versponnene, improvisierte mikrotonale Texturen und Melodien und ihr gänzlich einzigartiges Spektrum kraftvoller, perkussiver Flöteneffekte, das alles kombiniert mit elektronischer Verarbeitung.“

Als Anne La Berge in Kalifornien zur Welt kommt und nahe Minneapolis aufwächst, tut sie das in einer musikalischen familiären Umgebung. Ihre Mutter spielt Violine, ihr Vater, von Beruf Psychologe, leitet den Chor der örtlichen Bach-Gesellschaft. Das prägt. Eigentlich sollte sie Jazz lernen, ist aber dann doch weit mehr an klassischer Musik interessiert. Sie studiert an der Northwestern University, später in New Mexico, wo sie bei Frank Bowen Renaissance-Instrumente spielt. Daneben beschäftigt sie sich mit der Musik von Varèse und Stockhausen, von Oliveros, Feldman und Cage und macht ihren Masters degree an der University of Illinois, bevor sie nach Los Angeles wechselt. Zusammen mit Larry Polansky gründet sie dort das Kollektiv Frog Peak, für das ihre ersten Kompositionen entstehen.

Nach Amsterdam, wo sie seither lebt, übersiedelt Anne La Berge im Jahr 1989. Dort ist ihr für ihre vielfältigen musikalischen (und politischen) Absichten Hollands Komponistenszene viel zu sehr männlich dominiert. Also begibt sie sich auf die Suche nach einer passenderen, emanzipierten Umgebung und schreibt Stücke, die sie „composer/performer pieces“ nennt. Aber selbst hier in der relativen Autonomie der freien Szene herrschen mitunter patriarchale Zustände. La Berge: „Ich war damals naiv genug, um nicht zu sehen, dass auch in der Impro-Szene kaum Frauen dabei waren. Die wechselten damals bereits alle zur Performance-Kunst.“

Um das zu ändern, gründet Anne La Berge 1999 zusammen mit Cor Fuhler und Steve Heather die international bald einflussreiche Improvisationsserie Kraakgeluiden. Darin erforschen La Berge, Fuhler, Heather und ihre Gäste vorwiegend in besetzten Häusern die Kombination von akustischem mit elektronischem Instrumentarium und Computern. Im Zuge dieser in mehrfacher Hinsicht avancierten Forschungsarbeiten entwickelt Anne La Berge interaktive Echtzeit-Performance-Systeme.

2006 endet die glorreiche Phase der Kraakgeluiden und wird nahtlos in eine andere Organisationsform überführt – in die VOLSAP Foundation. Zusammen mit ihrem Mann, dem Gitarristen und Komponisten David Dramm, gründet La Berge eine bedeutende Plattform für zeitgenössische Musik und ihre Aufführungsmöglichkeiten. Aktuell organisiert man kleinräumige, informelle Konzertreihen, wie etwa die Amsterdam muzyQ oder das Minifestival field of ears, aber auch die Meisterklassen von Anne La Berge und Improvisation-und-Technologie-Workshops. Vorrangiges Ziel der VOLSAP-Initiative ist es, Gleichgesinnte aus verschiedenen künstlerischen Feldern zusammenzubringen, einander in Projekten und Produktionen zu unterstützen, einen Raum zu schaffen, in dem sie, ausgestattet mit technischem Equipment, arbeiten können und ihnen auch Auftrittsmöglichkeiten geboten werden. Als Spielort dafür konnte man das Splendor Amsterdam für sich gewinnen, ein altes Badhaus, in dem ein rund 50-köpfiges Kollektiv an KomponistInnen, MusikerInnen und PerformerInnen beheimatet ist. „Ein sprühendes Kulturmekka, ein ganz unglaublicher Ort“, schwärmt Anne La Berge.

Anfänge der Elektronik

Nicht selten lässt sie ihre markanten, teilweise waghalsigen Flötentechniken mit dem Sound punkiger E-Gitarren kollidieren. In diesem Kontext muss La Berge lauter spielen können, als es die Flöte erlaubt. „Es gibt unzählige musikalische Situationen, in denen ich verstärkt werden muss bzw. in denen ich Elektronik einsetzen sollte. Wenn ich mit E-Gitarristen spiele, mit Laptoppern oder mit Musikern, die in irgendeiner Weise Elektronik verwenden, ist es für mich wichtig, Teil des kollektiven elektro-akustischen Gemischs zu sein. Von allen Erklärungen abgesehen, liebe ich es einfach, damit zu spielen.“

Sie besorgt sich diverse Effektpedale und später ein interaktives Computersystem, das eine digitale Bearbeitung live ermöglicht. Anne La Berge über ihre elektronischen Anfänge: „Mein erstes elektronisches Instrument war das Mikrofon. Dem Flötespielen mit einem nahen Mikrofonverstärker verdanke ich einige der magischsten Aspekte unseres Sounds: Pfiffe, Harmonien, Echos von Vokalen und Konsonanten, um nur ein paar davon zu nennen.“ Trotz bemerkenswerter Resultate belässt sie es nicht dabei. „Als nächstes verwendete ich Hardware, um den Flötenklang zu bearbeiten. Ich begann mit kommerziellen FX-Geräten und setzte mit dem Clavia Micro Modular fort, dann dem Clavia Nord Modular G2 – und gegenwärtig bin ich eine passionierte Kyma System-Userin. In meinen Performances verwendete ich aber auch andere Systeme, wie etwa Max, Supercollider und Ableton Live. Max setze ich in den meisten meiner Stücke in Verbindung mit dem Kyma ein. Ich bin fasziniert von der Erweiterung der Flötensounds durch Elektronik. Ich schätze es sehr, mit dem Hilfsmittel der Elektronik eine unglaubliche dynamische Bandbreite zu erlangen. Es kommt vor, dass in einer Ensemble-Situation die Flöte nicht zu hören ist. Also habe ich Klangbearbeitungen entwickelt, die es mir in nahezu jeder musikalischen Situation erlaubt, gehört zu werden.“

Text als integraler Teil der Kompositionen

Eine zentrale Rolle in ihrem musikalischen Schaffen spielt der Text, sein präziser, völlig neuartiger Gebrauch und sein Formenreichtum. Ein fast mathematischer Aspekt kommt darin ebenso zum Vorschein wie die unbändige Lust am Spiel mit der Sprache. „Ich wähle meine Texte nach kompositorischen Gesichtspunkten aus“, erzählt La Berge. „Am liebsten würde ich alle meine Texte selber schreiben, aber manchmal passen akademischere oder feldspezifischere Texte besser zum Stück. In LonelyStats habe ich Beschreibungen von Baseball-Regeln verwendet, die ich im Internet fand und die wegen ihres Jargons so gut funktionierten. Oft schreibe ich Gedichte oder Prosa, um mich zu inspirieren; die verwende ich dann in der Performance. Das ist während der letzten zehn Jahre eine so vertraute Arbeitsweise für mich geworden, dass ich Text als integralen Teil meiner Kompositionen erkenne, und wenn ich ihn dann nicht verwende, fühle ich mich, als hätte ich einen radikalen Schritt zurück gemacht.“

Zwei Ensembles gilt seit einiger Zeit La Berges größtes Engagement: Shackle und MAZE. In Shackle operiert sie zusammen mit dem Laptop-Musiker Robert van Heumen. Beide haben ein digitales Kommunikationssystem entwickelt, das stellenweise als drittes Bandmitglied in Erscheinung tritt. MAZE widmet sich verschiedenen Phasen moderner Musik und einem neuen Verständnis von Hörperspektiven. Das spiegelt sich in älteren Werken von Cage, Lucier oder Ashley ebenso wider wie in jüngeren von Marclay, Sharp oder den MAZE-Mitgliedern Kyriakides und La Berge. Außerdem ist sie von Zeit zu Zeit Mitglied in Cor Fuhlers Corkestra, in Lucas Nigglis Big Zoom und Solistin im Ensemble Modern. KollegInnen, mit denen sie kooperiert, sind unter anderem der Bassist Joe Williamson, die Vokalistin Stephie Büttrich, der Elektroniker Gert-Jan Prins, der Gitarrist Lukas Simonis, der Tompeter Stephen Altoft und die Flötistinnen Theresa Beaman und Katherine Kemler.

Auf die abschließende Frage, ob für sie Akustisches und Elektronisches so längst untrennbar miteinander verbunden sind, dass das Eine ohne das Andere nicht mehr denkbar ist, hat Anne La Berge eine durchaus überraschende Antwort parat: „Ich genieße das Spiel mit der Flöte, allein oder mit anderen MusikerInnen, in rein akustischen Settings immens. Ich suche sogar aktiv nach Möglichkeiten, ohne Elektronik zu improvisieren oder zu performen. Akustische Instrumente verfügen über ein so reiches Repertoire an Sounds. Und die Musik, die für uns komponiert wird oder womit wir improvisieren, fasziniert mich endlos und ist für mich eine ästhetische Bereicherung.“

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